36
Mary lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich ganz zerschlagen. Gestern hatte die gerichtliche Untersuchung stattgefunden, und nach erfolgter Bestandsaufnahme war die eigentliche Verhandlung um eine Woche verschoben worden.
Lady Tressilians Beerdigung sollte morgen stattfinden. Audrey und Kay waren mit dem Auto nach Saltington gefahren, um sich Trauerkleider zu besorgen. Ted Latimer begleitete sie. Nevile und Thomas machten einen Spaziergang, sodass sich Mary, von den Dienstboten abgesehen, allein im Haus befand.
Inspektor Battle und Sergeant Leach hatten sich heute noch nicht gezeigt, und auch dies bedeutete eine Erleichterung. Es kam Mary so vor, als habe sich mit ihnen ein Schatten verflüchtigt. Sie waren höflich gewesen, recht angenehm sogar, aber ihre unaufhörlichen Fragen konnten einem empfindsamen Menschen schon auf die Nerven gehen.
Jetzt herrschte Ruhe, und Mary entspannte sich. Sie wollte alles, alles vergessen – nur liegen und ausruhen.
«Entschuldigen Sie bitte, Miss Aldin…»
Hurstall stand in der Tür und blickte schuldbewusst drein.
«Ja, Hurstall?»
«Ein Herr möchte Sie gern sprechen. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt.»
Erstaunt und leicht verärgert richtete Mary sich auf.
«Wer ist es denn?»
«Ein Mr MacWhirter.»
«Nie gehört. Wird wohl ein Reporter sein. Sie hätten ihn nicht hereinlassen sollen, Hurstall.»
Hurstall hüstelte.
«Ich glaube nicht, dass er Reporter ist, Miss Aldin. Er scheint ein Freund von Mrs Audrey Strange zu sein.»
«Oh, das ist etwas anderes.»
Mary ging mit müden Schritten in die Bibliothek hinüber. Als der große Mann, der am Fenster stand, sich umdrehte, fühlte sie sich überrascht. Er sah so gar nicht nach einem Freund von Audrey aus.
Trotzdem sagte sie liebenswürdig:
«Es tut mir leid, aber Mrs Strange ist nicht da. Sie wollten mit ihr sprechen?»
Nachdenklich prüfend musterte er sie.
«Sie sind Miss Aldin.»
«Ja.»
«Nun, Sie können mir wohl ebenso gut helfen. Ich möchte gern ein Seil haben.»
«Ein Seil?», wiederholte Mary verblüfft.
«Ja, ein Seil. Irgendwo im Haus wird doch sicher ein Seil aufbewahrt?»
Später dachte Mary, dass sie wohl halb hypnotisiert gewesen sein musste. Hätte dieser Fremde eine Erklärung vorgebracht, so wäre sie ihm nicht zu Willen gewesen, Andrew MacWhirter aber, dem keinerlei Erklärung einfiel, beschloss, einfach nur seinen Wunsch zu äußern.
Ganz benommen hörte Mary sich selber fragen: «Was für ein Seil möchten Sie denn?»
«Irgendeines.»
«Vielleicht im Geräteschuppen…»
Sie führte ihn hin. Dort fanden sich einige aufgerollte Schnüre und ein Bindfaden-Knäuel, doch MacWhirter schüttelte den Kopf. Er wollte ein Seil haben, ein Seil von beträchtlicher Länge und Stärke.
Schließlich fanden sie das Gesuchte, als Mary die Tür des Abstellraumes öffnete. MacWhirter stand auf der Schwelle und blickte hinein.
«Da ist es», sagte er befriedigt.
Auf einer Kommode gerade neben der Tür lag ein aufgerolltes dickes Seil zusammen mit alten Angelgeräten und einigen mottenzerfressenen Kissen. MacWhirter ergriff Marys Arm und führte sie in den Raum, bis sie vor der Kommode standen.
Er berührte das Seil und sagte: «Ich möchte Sie bitten, sich das zu merken, Miss Aldin. Sie sehen, dass alles ringsum von Staub bedeckt ist. Aber auf dem Seil ist kein Staub. Fassen Sie es mal an.»
«Es fühlt sich ein bisschen feucht an», antwortete sie in verwundertem Ton.
«Ganz recht.»
Er wandte sich ab, um wieder hinauszugehen.
«Aber das Seil? Ich dachte, Sie wollten es haben.»
Mary war mehr als überrascht.
Er lächelte.
«Ich wollte mich nur überzeugen, dass es da ist. Vielleicht schließen Sie die Tür ab und nehmen den Schlüssel an sich, Miss Aldin? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Schlüssel Inspektor Battle oder Sergeant Leach aushändigen würden. Er wäre am besten in der Obhut der Polizei aufgehoben.»
Als sie die Treppe hinuntergingen, bemerkte Mary: «Ich verstehe das Ganze nicht.»
«Das ist auch nicht nötig.»
In der Halle angelangt, ergriff MacWhirter ihre Hand und drückte sie herzlich.
«Ich bin Ihnen für Ihre Mitarbeit sehr dankbar.»
Worauf er schnurstracks zur Tür schritt.
Mary fragte sich, ob sie wohl geträumt hatte!
Kurz darauf kamen Nevile und Thomas herein, und gleich nach ihnen kehrte auch das Auto zurück. Mary ertappte sich dabei, dass sie Kay und Ted beneidete, weil die beiden fröhlich aussahen und miteinander scherzten. Aber schließlich, warum auch nicht?, dachte sie. Camilla Tressilian hatte Kay nichts bedeutet. Für ein strahlendes junges Geschöpf war es schwer, die Tragik des Geschehenen zu erfassen.
Gerade hatten sie das Mittagessen beendet, als die Polizeibeamten eintrafen. In Hurstalls Stimme schwang ein erschrockener Unterton, als er meldete, dass Inspektor Battle und Sergeant Leach im Wohnzimmer seien.
Battle begrüßte alle sehr freundlich.
«Hoffentlich störe ich Sie nicht», sagte er entschuldigend. «Aber ich hätte gern noch ein paar Fragen gestellt. Wem gehört zum Beispiel dieser Handschuh?»
Er hielt einen kleinen gelben Lederhandschuh in die Höhe und wandte sich an Audrey: «Vielleicht Ihnen, Mrs Strange?»
Audrey schüttelte den Kopf.
«Nein… nein, mir gehört er nicht.»
«Miss Aldin?»
«Ich glaube nicht. Ich habe keine Handschuhe dieser Farbe.»
«Darf ich sehen?»
Kay streckte die Hand aus.
«Nein.»
«Ziehen Sie ihn doch einmal an.»
Kay versuchte es, aber der Handschuh war ihr zu klein. Auch Mary passte er nicht. Battle wandte sich abermals an Audrey.
«Ich denke, dass er Ihnen passen wird. Sie haben die kleinsten Hände.»
Audrey streifte den Handschuh über.
Nevile sagte scharf: «Sie hat Ihnen doch schon gesagt, dass er ihr nicht gehört, Inspektor.»
«Na, vielleicht hat sie sich geirrt», gab Battle zurück. «Oder sie wusste es im Augenblick nicht.»
Audrey sagte: «Es könnte meiner sein – Handschuhe sehen irgendwie alle gleich aus, nicht wahr?»
«Jedenfalls wurde er vor Ihrem Fenster gefunden, Mrs Strange», erläuterte Battle. «Er war im Efeu versteckt, zusammen mit dem andern.»
Es entstand eine Pause.
Audrey öffnete den Mund, um etwas zu sagen; dann schloss sie ihn wieder. Vor Battles unverwandtem Blick schlug sie die Augen nieder.
Nevile trat vor.
«Hören Sie, Inspektor…»
«Ich möchte ein Wörtchen mit Ihnen reden, Mr Strange», fiel Battle ernst ein.
«Gern. Gehen wir in die Bibliothek.»
Sobald sich die Tür der Bibliothek hinter Nevile und den beiden Beamten geschlossen hatte, fragte Nevile scharf: «Was soll diese Geschichte mit den Handschuhen, die Sie vor dem Fenster meiner Frau gefunden haben?»
Battle erwiderte ruhig: «Mr Strange, wir haben in diesem Haus noch mehr seltsame Dinge gefunden.»
Nevile runzelte die Brauen.
«Seltsame Dinge? Was meinen Sie damit?»
«Sie sollen es sehen.»
Auf einen Wink des Inspektors verließ Leach den Raum und kehrte kurz darauf mit einem sonderbar aussehenden Gegenstand zurück.
Battle sagte: «Hier haben Sie eine Eisenkugel, die von einem Kamingitter stammt – eine sehr schwere Eisenkugel. Außerdem haben wir festgestellt, dass ein Tennisracket in zwei Teile zersägt worden ist; die Kugel wurde dann in den Stiel geschraubt.»
Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: «Es besteht nicht mehr der geringste Zweifel, dass Lady Tressilian mit diesem Instrument erschlagen worden ist.»
«Schrecklich!»
Nevile schauderte.
«Aber wo haben Sie dieses grässliche Ding gefunden?»
«Die Kugel hat der Mörder gereinigt und wieder ans Kamingitter geschraubt. Allerdings hat er vergessen, auch das Gewinde zu säubern. Wir fanden Blutspuren daran. Das Racket wurde mit Heftpflaster zusammengeflickt und nachlässig zu den andern Sachen in dem Schrank unter der Treppe geworfen. Wahrscheinlich wäre es dort unentdeckt geblieben, wenn wir nicht nach etwas in der Richtung gesucht hätten.»
«Großartig, Inspektor!»
«Reine Routine, Mr Strange.»
«Und wie steht’s mit Fingerabdrücken?»
«Das Racket, das dem Gewicht nach Mrs Kay Strange gehören dürfte, ist sowohl von Ihnen als auch von Ihrer Frau benutzt worden, denn es zeigt Fingerabdrücke von Ihnen beiden. Aber es fanden sich auch unmissverständliche Spuren, dass es eine Person, die Handschuhe trug, nach Ihnen und Ihrer Frau in den Händen gehabt hat. Ein Fingerabdruck ist jedoch auf dem Heftpflaster zurückgeblieben, vermutlich aus Unachtsamkeit, als das Racket wieder zusammengesetzt wurde. Vorläufig verrate ich noch nicht, um wessen Abdruck es sich dabei handelt. Ich möchte zuerst noch einige andere Punkte erwähnen.»
Battle schaltete eine Pause ein.
Dann sprach er weiter: «Ich muss Sie ersuchen, sich auf einen Schrecken vorzubereiten, Mr Strange. Eine Frage hätte ich noch zu stellen. Sind Sie ganz sicher, dass Sie den Gedanken hatten, mit Ihrer geschiedenen Frau hier zusammenzutreffen? War es nicht vielleicht Mrs Audrey Stranges Einfall?»
«Audrey hat nichts dergleichen gesagt. Audrey…»
Die Tür öffnete sich, und Thomas kam herein.
«Entschuldigen Sie, dass ich so hereinplatze», sagte er, «aber ich möchte gern dabei sein.»
Mit gequälter Miene wandte Nevile sich ihm zu.
«Seien Sie bitte nicht böse, Royde, aber hier handelt es sich um eine Privatangelegenheit.»
«Das kümmert mich nicht. Ich hörte draußen einen Namen nennen. Audreys Namen.»
«Und was geht das Sie an?», fragte Nevile mit aufsteigendem Zorn.
«Nun, eigentlich nicht mehr und nicht weniger als Sie, wenn man’s genau nimmt. Ich habe mit Audrey noch nicht gesprochen, aber als ich herkam, hatte ich die Absicht, sie um ihre Hand zu bitten; und ich denke, dass sie das weiß.»
Inspektor Battle hüstelte.
Nevile drehte sich zu ihm herum und murmelte: «Entschuldigen Sie, Inspektor. Diese Unterbrechung…»
«Das macht nichts, Mr Strange», fiel Battle ein. «Ich muss Sie noch etwas fragen. An dem dunkelblauen Anzug, den Sie am Mordabend beim Abendessen trugen, fanden sich innen am Kragen und an der Schulter blonde Haare. Haben Sie eine Ahnung, wie die Haare dahin gekommen sind?»
«Ich nehme an, dass es meine eigenen Haare sind.»
«O nein, Ihre sind es nicht. Es sind Frauenhaare. Und am Ärmel fanden sich rote Haare.»
«Die werden wohl von meiner Frau stammen – von Kay. Meinen Sie, dass die andern von Audrey sind? Gut möglich. Ich erinnere mich, ich verfing mich mit dem Manschettenknopf in ihren Haaren.»
«In diesem Falle müssten sie an der Manschette sein», murmelte Sergeant Leach.
«Was zum Teufel meinen Sie denn damit?», rief Nevile.
«Innen am Kragen ist auch etwas Puder», sagte Battle. «Primavera Naturelle Nr. 1 – ein sehr wohl riechender und sehr teurer Puder. Aber es hätte keinen Zweck, wenn Sie mir erzählen würden, dass Sie ihn zu benutzen pflegen, Mr Strange, denn ich würde Ihnen nicht glauben. Und Mrs Kay Strange benutzt Orchid Sun Kiss. Mrs Audrey Strange benutzt Primavera Naturelle Nr. 1.»
«Ja, und?», fragte Nevile.
Battle lehnte sich vor.
«Damit meine ich», erwiderte er langsam, «dass Mrs Audrey Strange bei irgendeiner Gelegenheit den Rock anhatte. Sie haben doch auch den Handschuh gesehen, nicht wahr? Es ist tatsächlich ihr Handschuh – der rechte; hier ist der linke.»
Er zog den zweiten Handschuh aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch. Der Handschuh war zerknittert und trug rostbraune Flecken.
«Was ist darauf?», fragte Nevile mit erschrockener Stimme.
«Blut, Mr Strange», antwortete der Inspektor bestimmt.
«Und beachten Sie bitte, dass es der linke Handschuh ist. Mrs Audrey Strange ist Linkshänderin. Das fiel mir als Erstes auf, als ich sie mit der Kaffeetasse in der rechten und mit der Zigarette in der linken Hand am Frühstückstisch sitzen sah. Außerdem liegt das Schreibmaterial auf ihrem Schreibtisch auf der linken Seite. Es passt alles zusammen. Der Knauf von ihrem Kamingitter, die Handschuhe vor ihrem Fenster, ihre Haare und ihr Puder auf dem blauen Rock. Lady Tressilian wurde an der rechten Schläfe verletzt, aber ihr Bett stand so, dass niemand auf der andern Seite hätte stehen können. Daraus lässt sich schließen, dass ein Schlag mit der rechten Hand sehr schwer zu führen gewesen wäre, hingegen hätte ein Linkshänder den Streich sehr leicht führen können…»
Nevile lachte zornig.
«Wollen Sie damit sagen, dass Audrey die alte Dame umgebracht hat, um sie zu beerben?»
Battle schüttelte den Kopf.
«O nein. Es tut mir leid, Mr Strange, aber Sie müssen die Dinge so sehen, wie sie sind. Dieses Verbrechen richtet sich in allererster Linie gegen Sie. Möglich, dass Mrs Audrey Strange den Gedanken erwog, Sie umzubringen, doch das genügte ihr nicht. Sie sollten als Mörder gehängt werden. Sie wählte den Abend, als Sie mit Lady Tressilian einen Streit hatten. Sie holte Ihren Rock und zog ihn an, damit er Blutspuren abbekam. Sie ließ Ihren Golfschläger am Tatort zurück, da sie wusste, dass er Ihre Fingerabdrücke trug, und sie beschmierte das Ende mit Blut und Haaren. Sie war es, die Ihnen den Gedanken in den Kopf setzte, hier mit ihr zusammenzutreffen. Was Sie rettete, war eine Kleinigkeit, mit der sie nicht hatte rechnen können – die Tatsache, dass Lady Tressilian nach Barrett klingelte, und dass Barrett Sie das Haus verlassen sah.»
Nevile hatte das Gesicht in den Händen vergraben.
Er stöhnte: «Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Audrey hat nie einen Groll gegen mich gehegt. Sie ist der anständigste, treueste Mensch mit einem durch und durch lauteren Herzen…»
Battle seufzte.
«Es gehört nicht zu meiner Aufgabe, mit Ihnen zu streiten, Mr Strange. Ich wollte Sie nur vorbereiten. Ich habe den Haftbefehl gegen Mrs Strange in der Tasche. Sie sollten sich nach einem Verteidiger für sie umsehen.»
«Das ist unsinnig, vollkommen unsinnig!»
«Liebe schlägt leichter in Hass um, als Sie ahnen.»
«Das ist unsinnig!»
Thomas mischte sich ein, seine Stimme klang ruhig und gefasst.
«Nehmen Sie sich zusammen, Strange. Begreifen Sie denn nicht, dass Sie Audrey nur helfen können, wenn Sie alle Ritterlichkeit beiseite lassen und mit der Wahrheit herausrücken?»
«Mit der Wahrheit? Meinen Sie…»
«Ich meine die Wahrheit über Audrey und Adrian.»
Thomas wandte sich an die beiden Polizeibeamten.
«Sie müssen wissen, Inspektor, Sie sind über die Zusammenhänge falsch unterrichtet. Nevile hat Audrey nicht verlassen, sondern sie verließ ihn. Sie ging mit meinem Bruder Adrian durch. Dann kam Adrian bei einem Autounfall um. Nevile verhielt sich Audrey gegenüber außerordentlich anständig. Er stellte die Sache so dar, dass er bei der Scheidung der schuldige Teil war.»
«Ich wollte nicht, dass ihr Name in den Schmutz gezogen würde», murmelte Nevile düster. «Aber ich ahnte nicht, dass jemand etwas davon wusste…»
«Adrian schrieb mir alles kurz vor seinem Tod», gab Thomas knapp zurück. Er fuhr fort: «Sehen Sie, Inspektor, das macht ihr Motiv zunichte! Audrey hat keinerlei Ursache, Nevile zu hassen. Im Gegenteil, sie hätte allen Grund, ihm dankbar zu sein. Er wollte ihr einen großzügigen Unterhalt zahlen, was sie nicht angenommen hat. Als er sie dann bat, hier mit Kay zusammenzutreffen, hatte sie natürlich das Gefühl, dass sie nicht gut nein sagen könnte.»
«Ja, das macht das Motiv zunichte», warf Nevile eifrig ein. «Thomas hat Recht.»
Battles hölzernes Gesicht blieb unbeweglich.
«Es kommt nicht nur aufs Motiv an. Vielleicht habe ich mich in diesem Punkt geirrt. Aber die Tatsachen! Alle Tatsachen weisen auf ihre Schuld hin.»
«Vor zwei Tagen wiesen alle Tatsachen auf meine Schuld hin», sagte Nevile nachdenklich.
Battle schien ein wenig verwirrt zu sein.
«Das stimmt. Ich weiß wohl, worauf Sie hinauswollen, Mr Strange. Ich soll glauben, dass jemand Sie beide hasst – jemand, der für den Fall, dass der Ihnen gelegte Fallstrick nicht wirkte, einen zweiten gegen Mrs Audrey Strange gelegt hat. Nun sagen Sie mir, Mr Strange, gibt es einen Menschen, der Sie und Ihre erste Frau hasst?»
Neviles Kopf ruhte wieder in seinen Händen.
«Wenn Sie es so darstellen, klingt es ganz unglaublich…»
«Ich muss mich an die Tatsachen halten. Wenn Mrs Audrey Strange eine Erklärung hat…»
«Konnte ich etwas erklären?», unterbrach Nevile.
Battle stand unvermittelt auf.
«Es hat keinen Zweck, Mr Strange. Ich muss meine Pflicht tun.»
Die beiden Polizeibeamten verließen den Raum als erste; Nevile und Thomas folgten ihnen auf den Fersen.
Sie gingen durch die Halle ins Wohnzimmer.
Audrey erhob sich und trat ihnen entgegen. Sie blickte Battle gerade ins Gesicht, ihre Lippen schienen lächeln zu wollen.
Sehr sanft fragte sie: «Sie kommen zu mir, nicht wahr?»
Battle schlug einen amtlichen Ton an.
«Mrs Strange, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes. Sie sind angeklagt, am zwölften September Camilla Tressilian getötet zu haben. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann.»
Audrey ließ einen Seufzer hören. Ihr klar geschnittenes Gesichtchen war ruhig und rein wie eine Kamee.
«Es ist beinahe eine Erlösung. Ich bin froh, dass es vorüber ist.»
Nevile sprang vor.
«Audrey, sprich nicht! Sag überhaupt nichts!»
Sie lächelte ihn an.
«Aber warum denn, Nevile? Es ist alles wahr, und ich bin so müde.»
Leach atmete tief. So, das war es also. Übergeschnappt natürlich, aber das erspart viel Mühe. Er wunderte sich nur über seinen Onkel. Der sah aus, als hätte er ein Gespenst erblickt. Starrte die unglückliche Irre an, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Na, jedenfalls war es ein interessanter Fall gewesen, dachte Leach zufrieden.
Plötzlich, wie als grotesker Höhepunkt des Auftritts, öffnete Hurstall die Tür und meldete: «Mr MacWhirter.»
MacWhirter kam zielbewussten Schrittes herein und ging schnurstracks auf Battle zu.
«Sind Sie Inspektor Battle, der den Fall Tressilian bearbeitet?», erkundigte er sich.
«Ja.»
«Ich habe eine wichtige Aussage zu machen. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt komme, aber es ist mir heute erst aufgegangen, dass ich am Montagabend etwas Wichtiges gesehen habe.»
Er blickte sich um.
«Kann ich mit Ihnen unter vier Augen sprechen?»
Battle wandte sich an seinen Neffen.
«Willst du hier bei Mrs Strange bleiben?»
Leach antwortete in amtlichem Ton: «Zu Befehl.» Dann beugte er sich vor und flüsterte dem Inspektor etwas ins Ohr.
Battle sagte zu MacWhirter: «Folgen Sie mir bitte.»
Er führte ihn in die Bibliothek.
«Nun, worum handelt es sich? Mein Kollege teilte mir soeben mit, dass er Sie im vergangenen Winter schon mal gesehen hat.»
«Das stimmt», versetzte MacWhirter. «Selbstmordversuch. Das gehört mit zu meiner Aussage.»
«Bitte, sprechen Sie, Mr MacWhirter.»
«Im Januar unternahm ich einen Selbstmordversuch, indem ich mich vom Stark Head hinunterstürzte, und nun zog es mich irgendwie an jenen Ort zurück. Montagabend ging ich dorthin. Ich stand eine Zeit lang auf der Klippe. Ich blickte übers Wasser zur Easterhead-Bucht, und dann schaute ich nach links. Das heißt, ich schaute zu diesem Haus hinüber. Im Mondlicht konnte ich es ganz deutlich sehen.»
«Und?»
«Erst heute kam es mir in den Sinn, dass dies der Abend war, an dem der Mord verübt worden ist.»
MacWhirter lehnte sich vor.
«Ich will Ihnen sagen, was ich sah.»